eine Geschichte

Vor Jahren traf sie einmal einen, der durch sie hindurchsah, wie durch eine Fensterscheibe. So sehr sie sich auch bemühte, sie rollte mit den Augen, schminkte diese kohlrabenschwarz, malte sich einen cochenilleroten Mund, zog sich für ihn extra enge Hosen an, machte sich quasi sozusagen zum Affen! So sehr sie sich bemühte gesehen zu werden, so konzentriert schaute er aus dem Fenster. Sie weinte still und leise. Natürlich sah er sie nicht. Sie heulte laut und heftig. Er sah sie nicht. Sie überlegte nackt auf dem Marktplatz zu tanzen, wählte allerdings einen Zeitpunkt, als er gerade nicht am Fenster stand. Wer wartet schon nachts um um halb vier darauf, mitten in der Stadt am Dreiviertelröhrenbrunnen eine ausgezogene Verrückte herumhampeln zu sehen?

Vor Monaten traf sie ihn wieder. Sie hatte sich in der Zwischenzeit zweimal getrennt. Der erste Mann, der sie ansah wollte immer nur ihr schönes Äußere und staffierte sie aus – mit schönen Kleidern aus glänzenden Stoffen, mit Rüschen und wallenden Gewändern mit Puffärmeln. Sie war nicht sie selbst. Sie kam sich verkleidet vor. Aber er wollte sie in puppengleicher Schönheit sehen. Als ihre Haut welkte, erlosch sein Interesse und sein Blick wurde glasig.
Dem zweiten Mann begegnete sie in löchrigen Jeans, mit Piercing in den Augenbrauen. Aber auch sein Blick war wolkenverhangen und immer vor dem Linienziehen hatte er nur Augen für das weiße Pulver. Sie hatte für ihn ihren gesamten Schmuck versetzt und als davon nichts mehr da war, konnte dieser Mann nicht einmal mehr geradeaus gucken, geschweige denn, sie an.

Als sie ihre erste unerreichte Liebe vor Wochen wieder traf, konnte er sie gar nicht erkennen, so sehr hatte sie sich verändert. Ihre ehemals walnussbraunen polangen Haare waren kurz und weiß geworden. Ihr sehr fraulicher Körper war, weil sie wegen einer Erkrankung strenge Diät halten musste, gertenschlank geworden. Ihr Kleidungsstil hatte sich grundlegend geändert. Sie trug jetzt ausschließlich dunkle Hosen, eine weiße Bluse und darüber einen legeren Pullover. Als sie ihn sah und erkannte, fiel es ihr wie Schuppen aus den Augen. Sie hatte ihn kopiert! Sie waren in derselben Kneipe und er sah sie immer noch nicht. In dem Moment als sie gehen wollte, schaute er zum Ausgang und verguckte sich in die charismatische Frau. Aber es war zu spät! Sie zog entschlossen die Tür hinter sich zu und ging erhobenen Hauptes am Fenster vorbei, ohne sich nochmals umzudrehen.

Kategorien: Geschichte

7 Kommentare

  1. Ein steiniger Weg, aber zum Schluss geradeaus.

  2. Die Wende am Schluss (nämlich dass sich die Protagonistin, ohne es zu bemerken, dem Mann, den sie so „angehimmelt“, ähnlich gemacht hat) finde ich originell und wirklich überraschend. Dass dieser Mann die Protagonistin erst dann bemerkt, sagt dann allerhand über ihn aus und macht die letzte Entscheidung der Frau verständlich (und richtig 😉 ).

    Hab ich gern gelesen!
    Liebe Grüße, Andrea

  3. Darum ist es schlau sich zu fragen, in was wir uns verlieben? In den ganzen Menschen mit einem unebenen Profil, mit Macken, Ecken und Kanten oder in etwas, das wir an anderen bewundern und es uns eigentlich für uns selbst wünschen? In dieser Geschichte war es nicht nur ein gewisser Kleidungsstil, es ging vielmehr um Freiheit und Unabhängigkeit. Eine der wichtigsten Lebenserfahrungen, der oftmals viele gescheiterte Beziehungen unerwiderter Liebe voraus gehen. Im besten Fall winkt als Belohnung die Erkenntnis, was Liebe ist. Sie wird oft mit Begehren verwechselt.
    Liebe Grüße und Lesedank von
    Amélie

  4. Hallo liebe piri!

    Ist das eine Geschichte von dir? Egal…Deine Geschichte hat mich sofort berührt, weil sie so ehrlich die Sehnsucht nach Gesehenwerden beschreibt – und den Schmerz, wenn dieser Blick einfach nicht kommt. Ich mag, wie der/die Autor*in das mit kleinen, fast absurden Bildern auflädst, etwa dem nächtlichen Tanz am Brunnen. Es wirkt gleichzeitig tragisch und ein bisschen komisch, was die Verletzlichkeit nur noch stärker macht. Besonders das Ende hat Kraft: dieses bewusste Weggehen, erhobenen Hauptes, ist wie ein Befreiungsschlag. Für mich bleibt der Text als Mischung aus Traurigkeit, Wut und Selbstbestimmung nachhallen – sehr intensiv!

    Danke fürs Lesen!

    Liebe Grüße aus dem sehr schwülen Norden

    Anne

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